
Ben-Oni
Da sah ich ihn, meinen Sohn. Er war so klein. Obwohl er nicht lebte, war er für mich ein Wunder. Er war schon komplett ausgebildet. Zumindest äußerlich. Er hatte kleine Finger, kleine Zehen. Ich küsste sein Köpfchen und konnte es kaum fassen.
Es war der Beweis, dass tatsächlich ein Baby in meinem Bauch gewachsen war. Unvorstellbar nach all den Erfahrungen, die ich mit dem Schwanger-Sein gemacht hatte. Es war eine unaussprechliche Freude, mein Baby im Arm halten zu können, während es unsagbar traurig war, dass die Zeit mit diesem kleinen Menschen schon wieder vorüber sein sollte.
Meine Schwester durfte ihn halten. Meine Schwiegermutter kam und auch sie durfte ihn im Arm halten. Dann wurde mein Sohn weggebracht. Er wurde gewogen, vermessen und fotografiert. Als sie ihn hinausbrachten, kamen sie an meinem Papa vorbei, der vor dem Krankenzimmer gewartet hatte. Als er hörte, dass ich das Kind angesehen hatte, tat er es mir gleich. Es berührte ihn meinen Kleinen zu sehen. Vor allem, dass alle äußeren Organe, die Formen von Gesicht und Gliedmaßen bereits vorhanden waren, ließen ihn nicht los.
Nach der Geburt war die Plazenta nicht von selbst gekommen. Sofort stand eine weitere Ausschabung im Raum. In der Hoffnung, dass sich der Mutterkuchen noch von selbst auf den Weg machen würde, erbat ich von der Hebamme Wartezeit. Als die Plazenta nach einer Stunde immer noch keine Anstalten machte zu kommen, fiel der Beschluss, dass ich wieder operiert werden würde.
Ich wollte mir diesmal zumindest die Vollnarkose ersparen und bat um einen Kreuzstich. Von diesem wurde mir allerdings abgeraten. Das Prozedere, das nun folgte, war mir wohlbekannt. Ein Träger kam und schob mein Bett aus dem Zimmer. Wir fuhren in ein anderes Stockwerk und ich verlor in den vielen Gängen des Krankenhauses die Orientierung. Mein Bett stand noch eine zeitlang vor dem OP-Saal in einem abgelegenen Gang, wo kaum jemand vorbeikam.
Mir kam die Frage in den Sinn, wie ich meinen Sohn nennen würde. Er war mein erstes Kind, von dem ich das Geschlecht wusste. Sofort musste ich an Mara, „bitter“, denken. Da es aber ein Mädchenname war, dachte ich weiter nach. Da fiel mir die Geburt von Benjamin, dem Sohn von Jakob und Rahel in der Bibel ein. Rahel starb bei der Geburt und gab ihrem Sohn in ihren letzten Atemzügen den Namen Ben-Oni, „Sohn meiner Trauer“. Ja, das war der passende Name für die Umstände, in denen mein Baby zur Welt gekommen war. Es sollte Ben-Oni heißen.
Endlich kam jemand, der mich in den OP-Saal führte. Ich bekam eine Vollnarkose, wurde zum dritten Mal ausgeschabt und erwachte im Aufwachraum. Dann wurde ich in mein Zimmer zurückgeschoben, wo mein Mann und meine Schwiegermutter bereits warteten. Schnell war klar, dass ich die folgende Nacht noch hier verbringen musste.
Mein Vormittag mit Ben-Oni
Es war wunderbar. Ich schlief tief und fest. Konnte mich zum ersten Mal seit meiner Erkältung wieder entspannen. Ich war endlich schmerzfrei. Und vor allem musste ich keine Angst mehr um mein Baby haben. Am nächsten Morgen erwachte ich erfrischt und gut ausgeruht. Obwohl ich noch nicht richtig begreifen konnte, was am Tag davor geschehen war.
Die erste Person, die mein Zimmer betrat, bat ich, mir meinen Sohn zu bringen. Ich wusste, dass ich nur wenig Zeit haben würde, mich von ihm zu verabschieden. Er wurde mir gebracht. Ich hielt ihn, ich sah ihn an. Ich herzte ihn, ich weinte. Den ganzen Vormittag verbrachte ich alleine mit Ben-Oni. Bevor ich abgeholt wurde, legte ich ihn zurück in sein Körbchen, in dem er mir gebracht worden war. Ich wusste, dass ich ihn danach nicht mehr zu Gesicht bekommen würde. Und ich war dankbar für die Fotos, die am Tag seiner Geburt von ihm gemacht worden waren.
Mir wurde eine Tablette gegeben, die die Milchbildung verhindern sollte. Zum ersten Mal konfrontiert mit diesem Thema, nahm ich sie einfach. Heute würde ich das wahrscheinlich nicht mehr tun. Aber damals waren es so viele unerwartete Entscheidungen, die es plötzlich zu treffen galt, dass es für mich in diesem Moment keinen anderen Weg gab, als medikamentös abzustillen.
Mir wurden Papiere vorgelegt, die ich unterschreiben sollte. Meine Entlassungspapiere und eine Einverständniserklärung, dass Ben-Oni im Ort, wo das Krankenhaus stand, in einem Sammelgrab mit anderen Sternenkindern bestattet werden sollte. Ich lehnte dankend ab, mit dem Hinweis, dass ich mich selbst um die Beerdigung kümmern würde.
Wieder zu Hause
Mein Mann holte mich ab. Wir gingen in die Natur. Ich fühlte mich seltsam in meinem Körper. Die Rückbildung musste erst beginnen. Es ist unnatürlich, wenn der Körper nach einem Wochenbett verlangt, aber kein Baby da ist. Wir gingen unseren Hausberg hinauf.
In den nächsten Tagen kaufte ich zum ersten Mal in meinem Leben Shapewear. Allerdings in XXL. Die Bodys waren immer noch eng genug und stützten meinen Unterbauch auf angenehme Art und Weise.
Am nächsten Wochenende hatte ich ein Kurs-Modul meiner Permakultur-Ausbildung am Land. Mein Mann konnte als WWOOFer mitkommen. Es tat uns so gut in der Natur zu sein und uns mit leichten Themen zu umgeben, während wir innerlich noch so aufgewühlt waren.
Als das Wochenend-Modul vorüber war, musste ich mir überlegen, wie ich nun weitermachen wollte. Es gab ein Begräbnis zu organisieren. Ich musste einen Bestatter finden. Es gab Entscheidungen zu treffen. Wo wollte ich meinen Sohn begraben? Am Ende wurde es das Grab meiner Mama. Als die Beerdigung endlich organisiert war, fiel mir ein Stein vom Herzen.
Mein Sohn hatte weniger als 500 g gewogen. Aus diesem Grund bekam ich keine Papiere für ihn. Die Geburt gilt offiziell als Fehlgeburt und nicht als Totgeburt, auch wenn ich sie als solche empfand.
Wie es weiterging
Ich zog mich in den ersten Monaten regelmäßig in mein Schlafzimmer zurück, um die Fotos von Ben-Oni herauszuholen, sie anzusehen und zu weinen. Für mich war es ein Prozess, das Trauern zu lernen. Irgendwann bemerkte ich, dass ich mir seine Fotos ansehen konnte, ohne zu weinen.
In der Gemeinde wurde ich wieder gehäuft nach meinem Wohlergehen gefragt. Ich war ein Stück reifer geworden als bei meiner ersten Fehlgeburt und dankbar über die Anteilnahme. Vielleicht war es auch einfacher, Mitgefühl anzunehmen, weil ich diesmal in der Lage war, die Trauer zu empfinden. Ich weiß es nicht. Aber ich kann mich auch an Situationen erinnern, in denen ich die Freimütigkeit hatte, zu sagen, was mich gerade beschäftigt, auch wenn es nichts mit Ben-Oni zu tun hatte. Ich bin den vielen Menschen sehr dankbar, die uns damals so mitgetragen haben. Es war eine turbulente Zeit.
Ich schloss mehrere kleine Ausbildungen ab. Meine Wohngemeinschaft löste sich auf, ebenso unsere Regierung. Meine Schwester heiratete einen meiner früheren WG-Kollegen. Mein Papa lernte seine künftige Frau kennen. Ich wurde wieder schwanger. Mein Bruder beschloss wegzuziehen. Und dann kam eine Pandemie, die unsere Welt erschütterte. Zeitgleich bekam ich ein Baby, das ich nicht nur in meinem Herzen, sondern auch in meinen Armen tragen kann.

