
Lebe deinen Traum! Will ich das?
Sie hatte das Haus durch den Hintereingang verlassen. Mit ihren Geschwistern gemeinsam, wie sie es nach dem Essen zu tun pflegten, wenn sie hier zu Besuch waren.
Mit ihrer Bibel, Notizblock und Stift in Händen schritt sie durch die hochgewachsene Wiese. Ihr Ziel? Die umgefallene Weide am anderen Ende des Gartens.
Sie suchte sich den schönsten Ast aus, setzte sich darauf und betrachtete verträumt den wunderbarsten Garten, den sie je gesehen hatte. Verwunschen wirkte er. Wild und als hielte er jede Menge Abenteuer bereit. Das fünfzehnjährige Mädchen seufzte in ihrem Inneren und sprach ein unüberlegtes Gebet. „Herr,“ betete sie: „wenn du mir dieses Haus schenkst, mache ich eine christliche Pension daraus.“
Schwupp, so schnell entstehen Lebensträume. Manchmal schlafen sie für Jahre ein, um dann wieder für einige Wochen zu erwachen, bevor sie wieder in den Hintergrund rücken. Im Laufe der Jahre entstehen und vergehen viele solcher Träume. Die einen begleiten einen für Jahrzehnte, während andere lediglich für einen Moment aufflammen, nur um sich danach als nichtig oder nicht ganz passend herauszustellen. Jene aber, die bleiben, sind womöglich mehr als bloße Träume. Ich glaube, dass es sich bei vielen Sehnsüchten unserer Herzen in Wirklichkeit um Teile unserer Bestimmung handelt.
Verträume nicht dein Leben
Szenenwechsel.
Wir befinden uns auf einem Pfingstjugendtreffen irgendwann in den frühen 2010er Jahren. Unter den Teilnehmern befindet sich ein Mädchen. Sie ist eine kritische Denkerin. Einer der Redner, Fossi genannt, spricht über TNT. Ja, er erwähnt auch Sprengstoffe in seiner Predigt. Aber in Wirklichkeit dienen sie als Eselsbrücke, damit seine Botschaft hängen bleibt. Und es funktioniert.
T…Traum: Verträume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum!
N…Neid: Hau’ deinem Neid eins in die Fresse, sodass ihm hören und sehen (spezifische Kopfbewegung mit Kunstpause) vergeht.
T…Tod: Gedenke, dass du sterben wirst, auf dass du klug werdest.
Mehr als zehn Jahre später sind mir die Merksätze aus seiner Predigt von damals immer noch im Kopf. Sie haben sich eingeprägt und jetzt, nachdem ich sie schriftlich festgehalten habe, haben sie wohl kaum mehr eine Chance zu vergehen.
Warum erzähle ich dir von Fossi und seiner TNT-Predigt?
Heute bewegt mich vor allem sein erster Leitsatz: Verträume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum.
Die entscheidende Frage, die sich hier stellt, ist: Will ich das?
Klingt vielleicht erst einmal nicht ganz nachvollziehbar. Klar, jeder will doch seine Träume leben. Aber wir müssen bedenken, dass Träume in unserer Vorstellung anders sind, als in der Realität. Wir alle träumen irgendwann von irgendetwas. Da bin ich mir sicher. Manchmal ist es eine Ausflucht aus dem Jetzt. Manchmal ist es eine nette Freizeitbeschäftigung.
Aber wir riechen in Träumen nicht. Wir spüren keine Temperaturunterschiede und nehmen auch sonst nicht viel mit unserer körperlichen Empfindung war. Nicht alle unserer Sinne können sich in einen Traum versetzen.
Wer davon träumt, eine Schaffarm in Neuseeland aufzubauen, wird in diesem Moment nicht den kalten Regen auf der Haut spüren, der bei der Erfüllung dieses Traumes unweigerlich zur Realität gehören wird.
Nachdem ich das verlinkte Video über das Leben von Träumen auf YouTube gesehen hatte, wurde ich vorsichtiger mit meinen Träumen. Die Erfüllung eines Traumes birgt eben auch ein Risiko in sich. Man könnte enttäuscht werden. Man könnte sogar feststellen, dass es sich um einen Ersatztraum handelte und die erwartete Erfüllung ausbleibt.
Und dennoch konnte ich Fossi nicht ganz vergessen. Und auch meine Träume nicht.
Dann gab es diesen kurzen Moment im Garten. Quasi aus dem Nichts sah er mich geradewegs an und fragte: „Würdet ihr es haben wollen?“
Obwohl ich mein Leben lang überzeugt davon gewesen war, dass ich sofort mit einem: „JA!“, herausplatzen müsste, merkte ich in diesem Moment, was mich das Leben meines Traums kosten würde.
Es würde bedeuten, alles zu verlassen. Es würde bedeuten, mich auf ein Abenteuer einzulassen, dessen Ausgang völlig ungewiss wäre. Ich liebe Abenteuer. Ich liebe es den Status Quo nicht nur zu hinterfragen, sondern ihn regelrecht zu gefährden, wenn es Hoffnung auf etwas Besseres gibt. Und diese Hoffnung sehe ich oftmals selbst in Situationen, in denen ich damit wenig Gesellschaft habe.
Mehr als ein Traum
Mir wurde klar, dass es sich hier nicht lediglich um einen naiven Traum handelt. Es geht um mehr. Es geht um eine Vision. Es geht um Berufung und Bestimmung. Es geht um ein Lebenswerk. Es geht um Familiengeschichte. Und natürlich geht es auch immer um das Reich Gottes, das er auf dieser Welt aufzurichten vermag.
Gleichzeitig geht es um Wurzeln, die wir geschlagen haben. Oder um Wurzeln, die gewachsen sind, dort, wo wir eingepflanzt wurden.
Es gibt Zeiten zum Einpflanzen und es gibt Zeiten zum Herausreißen. Es gibt Zeiten zum Niederreißen und es gibt Zeiten zum Aufbauen. Es gibt Zeiten für Umarmungen und es gibt Zeiten zum Loslassen. Es gibt Zeiten zum Aufbewahren und es gibt Zeiten zum Wegwerfen.
Das sagte uns einst schon der Prediger. Alles hat seine Zeit. Auch das Leben eines Christen verläuft in Jahreszeiten.
Als ich mit dieser überraschenden Frage im Garten konfrontiert war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die starken Wurzeln, die ich damals spürte, sich jemals lösen würden. Und doch folgte eine Zeit des Aufräumens und Ausmistens, der Zerwürfnisse, aber auch der Heilung. Es waren Jahre des Gebärens, des Weinens, des Klagens, des Suchens & des Redens.
Einige Jahre später kam das Thema über die Übernahme der alten Resthofstelle, des Vierseithofes meines Großvaters, wieder auf den Tisch. In der Zwischenzeit konnte ich keine Bindung mehr nennen, die mich hier noch halten würde. Es waren eher Angst und Trauer, die mich zurückhalten könnten.
Schlussendlich trafen mein Mann und ich nach viel Gebet eine Entscheidung. Eine Entscheidung zu gehen und an einem neuen Ort anzukommen. Eine Entscheidung für einen Neubeginn. Eine Entscheidung ein Erbe zu empfangen, es zu bewahren und auszubauen.1
- Craig Hill & Earl Pitt; Mäuse, Motten & Mercedes; Gießen: Verlag Campus für Christus, 2. Auflage 2004; S. 188 ↩︎
