Von der Angst vor dem Verlorengehen Anderer
Sie ist weitverbreitet und kann zu immenser Größe anwachsen. Die Angst vor dem Verlorengehen Anderer. Grenzen verschwimmen. Nächstenliebe wird unmerklich zu Übergriffigkeit transformiert. Echte Beziehungen, halten sie das Weiterziehen eines Anderen aus?
Ein verlorenes Schäfchen?
Als Kind konnte ich dieses Phänomen beobachten, das sich zutrug, wenn Jugendliche aus der Gemeinde zu Studenten wurden. Viele zogen in die Hauptstadt und waren nicht mehr gesehen. Wo waren sie hin?
Ich meine natürlich nicht ihren Wohnort. Vielmehr stellt sich die Frage, wo diese Menschen ihr soziales Umfeld und ihre geistliche Nahrung finden. In einer der vielen Gemeinden der Hauptstadt? Oder ist der Studienbeginn vielleicht doch ein guter Aufhänger für einen unmerklichen Ausstieg?
Für mich war der erste Lockdown ein guter Aufhänger für genau so einen unauffälligen Ausstieg. Mein soziales Umfeld blieb, wo es war. Ebenso mein Wohnort. Genau genommen bekam ich auch meine geistliche Nahrung weiterhin aus den selben Quellen.
Was bedeutet also Ausstieg? Bedeutet es am Sonntag nicht mehr zu kommen? Bedeutet es künftig einen Weg ohne Gott einzuschlagen? Oft wird über diese Details nicht näher gesprochen. Was man aber hört sind Sätze wie: „Sie kommt nicht mehr…“
Warum berührt uns das so?
Ist es der Missionsauftrag?
Ist es die Frage nach der Verantwortung?
Können wir uns dieser entziehen, wenn es so aussieht, als würde ein anderer Mensch geradewegs in die Hölle fahren?
Ein weitergezogenes Schäfchen?
Man kommt bei dieser Thematik nicht umhin die Sicherheit des eigenen Glaubens auf den Prüfstand zu stellen. Denn ist diese auf wackeligen Beinen, glaubt man schnell, jemand bewege sich dem Abgrund zu, während er einfach ein Schäfchen ist, das vom Hirten die Erlaubnis bekam, sich auf einer anderen Weide zu nähren. Vielleicht auch andere Kräuter zu fressen, die auf der ursprünglichen Weide gar nicht gewachsen sind.
Der Oberhirte pflegt doch zu jedem seiner Schäfchen eine ganz besondere Verbindung. Weil jedes Schäfchen ein bisschen anderes ist, als das neben ihm stehende, ist auch diese Verbindung zum Hirten unterschiedlich. Trotzdem ist sie gut und richtig. Und deshalb kann es sein, dass manche Schäfchen weiterziehen, ohne dabei verloren zu gehen.
Wir sind nicht sicher, weil wir der richtigen Gruppe angehören oder weil wir die richtigen geistlichen Praktiken auf die richtige Art und Weise verüben, sondern weil unser Hirte auf uns aufpasst. Weil sein Geist in uns wohnt und uns in alle Wahrheit führt. Weil er uns lehrt, überführt, prüft, läutert, liebt, versorgt und noch so vieles mehr.
Heilen, ehe man wiederkommt
Und dann gibt es noch die Zurüstung im Verborgenen. Es gibt diese Wüstenjahre, durch die so viele biblische Personen durch mussten, bevor sie enorm fruchtbringend für das Reich Gottes wurden.
Ein oft unterschätzter Dienst, der wesentlich zur Zurüstung von Christen beiträgt, ist die Gebetsseelsorge. Seelsorge ist so viel mehr als Heilung. Es geht um Heiligung. Es geht darum, dieser vollkommene Mensch zu werden, den Jesus uns in der Bergpredigt in Matthäus 5 auffordert zu sein.
Es geht unter anderem darum milde zu werden. An diesem Vers habe ich immer schon gekiefelt. Wie soll ich jemals für meine Milde bekannt werden? Da fordert Paulus wieder mal eine Menge von uns.
Heilen, ehe man wiederkommt. Vielleicht gibt es einige Schäfchen, die in ihren Mustern derart feststecken, dass sie die Gemeinde verlassen müssen, um gereift und befreit wiederzukommen, ehe sie zum Segen für Viele gereichen können.
So hatte auch ich vor kurzem diesen Eindruck, dass es notwendig ist, heil zu werden, ehe ich fähig werde, mich den Gefahren, die eine Gemeinde für die eigene Seele bedeuten kann, wieder auszusetzen.
Ja, Gemeinde soll auferbauen. Aber wir Christen sind leider allzu häufig richtig gut darin, mit Ratschlägen und Bibelversen um uns zu fetzten und zum Ankläger unserer Brüder zu werden. Das sage ich nicht, um jemanden da draußen zu beschuldigen. Ich war die Allererste, die genau das unzählige Male getan hat. Vielleicht ist meine alte Herzenshärte mein bis dato größter Hindernisgrund mich der Gemeinschaft meiner Geschwister wieder zu stellen.
Wie dem auch sei, am Ende komme ich nicht drumherum. „Wir sind in Beziehungen verletzt worden, genauso werden wir in Beziehungen wieder geheilt werden,“ sagte mein Seelsorger einmal.
Einfach davonstehlen funktioniert also nicht. Nein, es funktioniert nicht. Neben der Einsamkeit, die ich noch gar nicht so richtig in der Lage bin zu spüren, habe ich diese Menschen so lieb. Diese Menschen, die mich jahrelang begleitet haben, die ich begleitet habe. Die einfach da waren. Die Kinder, die ich großwerden gesehen habe, die Erwachsenen, die ich älter werden gesehen habe. Diese wunderbaren Geschöpfe, diese Geschwister. Wie oft habe ich um sie geweint. Weil ich sie so lieb habe. Und doch nicht mit ihnen verbunden bleiben konnte.
Fazit
Es gibt verlorene Schäfchen, es gibt weitergezogene Schäfchen und es gibt solche, die gestärkt wieder zurückkommen. Diese Liste erhebt übrigens keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Wer Angst um das Seelenheil eines womöglich Abtrünnigen bekommt, könnte sich Zeit für diese Person nehmen. Nicht primär, um sie wieder in die Institution zu leiten. Sondern, um die Person zu sehen. Um herauszufinden, wer einem da eigentlich gegenüber sitzt. Und die Zweifel des Anderen gar als Bereicherung für den eigenen Glauben zu erkennen. Wenn dich die Zweifel des Anderen allerdings bedrohen, wenn sie an deinen Fundamenten zerren, dann bist du vielleicht nicht die Person, die Gott dafür vorgesehen hat, diesen Anderen aufzufangen.
Wichtig zu sagen ist mir, dass Menschen, die die Gemeinde verlassen, normalerweise Gründe dafür haben. Der Verlust des Seelenheils ist dabei möglicherweise ziemlich weit unten auf der Liste an Gründen. Natürlich kann es sein, dass jemand nicht wirklich glaubt und sich dazu entschließt, künftig ohne Gott durchs Leben zu gehen. Aber würde das Bleiben in der Institution, das Kommen am Sonntag, diese Person retten?
Der Herr ist fähig zu jeder Person zu sprechen. Er kann Erkenntnis schenken. Das dürfen wir anerkennen.