Parentifizierung – Wenn Kinder wie Eltern werden
Ganz baff erzählte er mir davon, er habe nun gelesen, dass Eltern, die ihre Aufgaben vernachlässigen, das Kind damit in die Elternrolle drängen. „Ich weiß, das nennt sich Parentifizierung,“ gab ich prompt zurück.
Ja, mir war das Thema bereits untergekommen. Verena König, eine der bekanntesten Traumatherapeuten Deutschlands, hatte in einer Podcastfolge darüber gesprochen.
Sie schreibt auf ihrem Instagram-Kanal davon, dass Kinder die Elternrolle nur aus der Not heraus übernehmen. So einfach ist das aber mitunter gar nicht zu erkennen.
Ich wollte beispielsweise als Kleinkind unbedingt wie meine Mama sein.
Ich wollte erwachsen sein.
Ich wollte Arbeiten zu erledigen haben.
Ich wollte mir meinen Tag einteilen.
Ich wollte Entscheidungen treffen.
Solche Kinder können das Thema etwas heikler machen. Denn sie rutschen leichter auch unbemerkt in eben so eine Elternrolle. Werden parentifizierte Kinder groß, nennt Verena König, im oben erwähnten Posting die folgenden unguten Muster:
- „Überfürsorglichkeit
- Einmischungstendezen
- Co-Abhängigkeit
- Aufopferung
- mangelnder Kontakt zum eigenen Inneren“
Instrumentelle und emotionale Parentifizierung
In der Literatur wird zumeist zwischen instrumenteller und emotionaler Parentifizierung unterschieden.
Instrumentelle Parentifizierung meint, dass ein Kind die praktischen Aufgaben eines Erwachsenen im Familiengefüge übernimmt. Das kann von der Verantwortung im Haushalt bis hin zu Windeln wechseln und der Betreuung von Geschwisterkindern reichen.
Emotionale Parentifizierung besteht dann, wenn ein Kind als übermäßiger Zuhörer für einen Elternteil herhalten muss. Wenn Eltern ihre Sorgen ungefiltert mit dem Kind teilen und sich stets ein offenes Ohr von ihm erwarten, ist größte Vorsicht geboten. Ein Kind kann diese emotionale Last in der Regel nicht unbeschadet tragen. Dies kann bis hin zu einer Art Ersatzpartnerschaft führen.
Sensible Lastenträger und willensstarke Kinder
Was ist nun aber mit Kindern, die Freude daran haben mitzuhelfen?
Es ist doch wichtig für Kinder, dass sie sich als ein Teil des Familiengefüges fühlen können. Und das entsteht eben auch dadurch, dass man etwas zum Gemeinsamen beiträgt. Hier sehe ich wiederum zwei Arten an Kindern, die prädestiniert dafür sind, ihren Eltern jenes Kopfzerbrechen zu bereiten, das meine Mama mit mir plagte.
Einerseits handelt es sich um sensible Kinder, die Missstimmungen besonders fein herausfühlen können. Sie merken, wenn etwas nicht stimmt. Sie merken, wenn Mama oder Papa überfordert sind. Nicht unbedingt bewusst, aber sie nehmen wahr, dass es eine Ungereimtheit gibt. Da diese Ungereimtheit bedrohlich auf das Kind wirken kann, kann es vorkommen, dass es versucht sein dadurch entstandenes Problem zu lösen. Allzu leicht wird ein solches Kind durch diesen Prozess besonders hilfsbereit. Es bekommt ein gutes Auge für die Arbeit, die noch zu erledigen ist und macht sie vielleicht einfach mal. Oder es entwickelt irgendwelche Verhaltensmuster, die dabei helfen sollen, entweder emotionale Last oder Arbeitslast zu seinen Ungunsten neu zu verteilen – um die Eltern zu entlasten.
Solche Kinder brauchen Eltern, denen dieses Verhalten auffällt und die erkennen, dass das Kind nicht aus einfacher Freude an der Tätigkeit handelt. Manchmal kann es ein bisschen tricky sein, mit so einem Kind ins Gespräch zu kommen, da das Kind ja entlasten will. Wenn nun aber ein besorgter Elternteil es auf sein Verhalten anspricht, erreicht es ja mitunter das Gegenteil.
Auf der anderen Seite sind es häufig besonders willensstarke Kinder, die beispielsweise einen scheinbaren Mangel in der Haushaltsroutine der Eltern feststellen und Optimierungen durchführen möchten. Das alleine wäre ja noch kein Problem, wenn besagtes Kind einfach gerne den Familienalltag mitgestalten möchte. Dann könnten die Eltern entweder auf den Änderungsvorschlag eingehen oder ihre persönliche Grenze als Leitwolf der Familie setzen und dem Kind erklären, dass der scheinbare Mangel gar keiner ist. Je nach Alter des Kindes könnte in diesem Fall ein Gespräch darüber folgen, weshalb die Eltern bestimmte Dinge so und nicht anders handhaben.
Problematisch wird es dann, wenn das Kind die Verantwortung für seine Optimierungsmaßnahmen übernimmt, auf diese Weise in die Gestalterrolle der Eltern rutscht und anschließend nicht wieder auf seinen rechtmäßigen Platz im Familiengefüge zurückverwiesen wird.
Lini Lindmayer sprach einmal in einem Impulsaudio über dieses Thema und nannte als ausschlaggebendes Erkennungsmerkmal für zu viel Verantwortung auf kindlicher Seite, dass das Kind in einen Zustand gerät, in dem es ihm nicht mehr gut geht. Manche Kinder bekommen Wutanfälle in ihrem Tun. Anderen merkt man eine übermäßige Traurigkeit an. Wie auch immer es sich am Ende äußert, es ist alles gut, solange das Kind in seiner Mitte bleibt bei den Aufgaben, die es freiwillig erledigt und solange das Wohl und einwandfreie Funktionieren der Familie nicht vom Beitrag des Kindes abhängt.
Weiterführende Quellen:
- Verena König Podcastfolge #120 Parentifizierung – vom Schmerz, stark sein zu müssen
- Buch von John & Paula Sandford: „Umgestaltung des inneren Menschen“ Kapitel 17: Umkehrung der Elternrolle & Ersatzpartner
- Webseite des Psychotherapeuten Mag. Raphael Höfinger
- Webseite parentifizierung.de, betrieben durch den systemischen Supervisor und Berater Johannes Faupel